Kurzgeschichten

Zeitdiebe (2021)

Du wirst geboren, dann lebst, liebst, leidest du und an einem dir unbekannten Tage wirst du sterben. Dein Name wird vielleicht noch ein paar Jahre auf einem Grabstein stehen, aber das war’s dann auch. Vorbei. Deine Zeit ist um. Also schnell, deine Zeit ist knapp, schnell, nutze jede Sekunde. Verschwende nicht, wovon du eh nicht viel besitzt. Spare. Was hast du bisher erreicht?

Komm und lass uns gemeinsam graue Herren werden.

Wenn man an das Buch “Momo” von Michael Ende denkt, dann denkt man automatisch auch an die rauchenden grauen Herren, das kleine Mädchen, was den Leuten so gut zuhören kann, und die Schildkröte Cassiopeia.

Es ist eine Kindergeschichte, und auch Momo ist ein Kind. Und ja, Kinder erleben das Leben anders, haben keine Verantwortung zu tragen, aber dafür eine sehr kurze Konzentrationsspanne. Sie denken nicht an Folgen, für Kinder ist alles ein Spiel. Man kann Kinder nicht ernst nehmen. Alles Gedanken, die aufkommen können, wenn man das Buch liest und das Kind in sich selbst nicht mehr sehen kann. Wir vergessen die kleinen Momente.

Momo wird in der Geschichte sehr einsam, weil die anderen Kinder das Spielen verlernen und die Erwachsenen keine Zeit mehr für sie haben. Alle Figuren verlernen es, den Moment zu leben, sie werden unglücklich und die grauen Herren dadurch immer mächtiger. Neben Momo ist es vor allem der Straßenkehrer Beppo, der den Moment als günstigen Augenblick zu erkennen vermag. Er wird als Sonderling bezeichnet, als nicht ganz richtig im Kopf.

Beppo sagt: “Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man. […] Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. […] Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten. […] Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat.” (Ende, Michael (2019): Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. 12. Aufl. Stuttgart: Thienemann-Esslinger Verlag, S.40-41).

Und deshalb ist er mein persönlicher Held, das ist er schon immer gewesen. Denn ob Kind oder nicht, ob sonderbar oder nicht, wir können Zeit nicht besitzen. Momo kann in einer Sekunde die Ewigkeit erleben, während wir es nicht einmal schaffen, in der Ewigkeit eine Sekunde zu erleben. Ein Moment, den man in vollständiger Aufmerksamkeit erlebt, kann ewig sein. Und keine Straße ist zu lang , wenn man einen Schritt nach dem anderen geht.

Wenn man einmal das Gefühl hat, keine Zeit mehr zu haben, sollte man das Buch vielleicht einmal zur Hand nehmen. Denn es sind die kleinen Momente, die das Leben lebenswert machen und uns von den grauen Herren unterscheiden.

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