Kurzgeschichten

Weihnachtskarten (2023)

 Zu dieser Zeit achtete man nicht auf ihn, dafür waren in der Weihnachtszeit alle zu sehr mit Besinnlichkeit beschäftigt. Besinnlichkeit. Zu Weihnachten bedeutet das in etwa, in der letzten Sekunde noch Weihnachtsgeschenke zusammenzukaufen und dann panisch zu hoffen, dass die Bestellungen noch rechtzeitig eintreffen werden. Vor lauter Stress streunt man dann jeden Abend auf dem Weihnachtsmarkt, um sich richtig schön zu betrinken. Man gönnt sich ja sonst nichts. Besinnlichkeit. Niemand achtete in dieser Zeit auf überhaupt irgendwen oder irgendetwas und so war es für ihn ein Leichtes, dem Treiben der Stadt zu entfliehen. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, beobachtet die Menschen, die Kinder, den grauen Himmel. Er trinkt keinen Glühwein, er sitzt hier und öffnet das fünfte Dosenbier, ungekühlt, denn sein Kühlschrank ist kaputt. Besinnlichkeit.

Er nimmt die Weihnachtskarten in die Hände, will sie heute schreiben, bevor ihn der Mut verlässt, will zumindest seinen engsten Freunden und der Familie schreiben. Der Kugelschreiber zittert, als er ihn auf dem Papier aufsetzt und eine dünne Spur damit zieht. Der Kugelschreiber war ein Werbegeschenk irgendeines Schweins gewesen, der unter seiner Leitung das Paradies auf Erden versprach und in seinen Reden immer nur das kleine Detail ausließ, dass das Paradies nur ihm, nicht dem gemeinen Mann gelten sollte. Der Rest der Gesellschaft sollte nur dafür arbeiten. Er seufzt und nimmt einen weiteren Schluck von seinem Bier. Gerecht war das alles nicht. Was er tut, ist auch nicht gerecht, aber das ist ihm egal. Er sitzt hier und schreibt, weil zu dieser Zeit niemand damit rechnen würde, weil er den ganzen Anforderungen sonst nicht entkommen könnte. Er hat sich für die nächsten beiden Wochen Urlaub geholt. Um sich nochmal auf sich zu besinnen, hat er dem Chef gesagt. Kaum hat man einmal Zeit, über etwas nachzudenken, da fällt man in dieses Schwarze Loch. Das Pferd stirbt, bevor es den Rest des Alphabets lernen kann. Auf die Karte seines Jüngsten malt er ein Pferd. Sein Herz rast und ihm ist schlecht. Er weiß genau, dass das, was er tut, unverzeihlich ist. Aber ihm sind die Ideen ausgegangen, was er sonst noch tun könnte. Das System hat ihm zum Verlierer erklärt, er hat lang genug dagegen angekämpft, er wird die Niederlage einsehen, aber er wird sich nicht fügen. Er wird sich nicht länger für das Paradies eines anderen abrackern.

Er öffnet ein weiteres Bier und schreibt die Weihnachtskarten zu Ende, unterschreibt sie noch, bevor er nach seinem Mantel greift, ins Auto steigt und die Karten bei der Post einwirft.

Später wussten die Feuerwehrleute kaum, wie sie im Schneematsch Erde und Körperteile auseinanderhalten sollten. Behutsam, damit man auch nicht unerwartet in ein Stück Fleisch trat, bahnten sie sich ihren Weg, um einzusammeln, was noch von ihm übrig geblieben war, von diesem Menschen, der beschloss, kurz vor Heiligabend von der Brücke zu springen.

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