Kurzgeschichten

Mottenmelancholie (2021)

Er schließt die Haustüre hinter sich, setzt sich auf eine der Straßenbänke. Diese Nacht ist endlich nochmal so richtig kalt und es riecht nach Regen. Vielleicht kommt er noch, vielleicht ist er schon gegangen, wer weiß. Nur eine letzte Zigarette noch, dann muss er wirklich wieder schlafen gehen. Ob sie noch wach ist? Seit Stunden ignoriert er ihre Anrufe und zählt die ungelesenen Nachrichten. 27. Es reicht langsam. Mit dem Display nach unten legt er das Handy neben sich, statt auf den Bildschirm zu schauen, betrachtet er die Motten an den Straßenlaternen, diese dunklen tänzelnden Flecken. Wonach sie wohl suchen? Sobald abends die Lichter angehen, tauchen sie von überall her auf. Keine Lichter ohne Motten, stille Begleiter in der Nacht. Unerwünschte Begleiter. Und kleine Abenteurer, auf der Suche nach dem Schatz, der sich im Licht verbirgt. Er zieht an seiner Zigarette. Ihre Sehnsucht wird ihr Tod sein. Sie folgen ihr blind, sehnen sich nach dem Licht oder der Wärme oder den Schatten im Licht oder was auch immer. Es scheint so nah, doch sie werden ihr Ziel nicht erreichen. Sie träumen von einer perfekten Welt, aber die Welt ist nicht perfekt und was jetzt schön glänzt, kann einen schon bald ins Verderben stoßen. Eine der Motten fliegt zu nah an das Licht der Laterne, auf ein leises, fast unhörbares Zischen, folgt ein Fall.

Auch du und ich, denkt er, wie Motten zum Licht. Am Ende verbrennt man sich.

Trotzdem hören die Mitstreiter des gefallenen kleinen Abenteurers nicht auf. Sie fliegen weiter, fast scheint es so, als flögen sie sogar noch näher an das Glas der Laterne heran. Er schüttelt den Kopf. Was kann es sein, das es wert ist, dafür zu sterben? Vielleicht ist es der Tod selbst. Die Motten können nicht aufhören, sie fliegen weiter und weiter, bis ein neuer Tag anbricht oder sie sterben. Es steht nicht in ihrer Macht, dieses Muster zu durchbrechen, sie können nicht aufhören, nach dem zu suchen, was sie erfüllt. Sie werden es die nächste und die übernächste und jede darauffolgende Nacht wieder so machen. Er nimmt sein Handy. Laut Internet orientieren sich Motten am Mond. Sie suchen das Licht des Mondes. Er hilft ihnen zu fliegen, er ist ihr Kompass und ihre Sehnsucht. Aber sie sind nicht frei in ihren Handlungen, können den Mond nicht von den Laternen unterscheiden. Sie folgen einer Lüge, einer Verwirrung. Und handeln ihrem Trieb entsprechend. Sie suchen den Mond. Er schüttelt den Kopf. Sehnsucht als Trieb, wo bleibt da die Freiheit? Eigentlich sollte er ins Bett gehen. Aber jetzt verspürt er den Drang, endlich mit ihr zu sprechen. Vielleicht ist das ganze Leben ein Flug zum Licht. Wer weiß, was danach passiert. Wir bemühen uns. Jeden Tag. Wir werden scheitern, und trotzdem werden wir weitermachen. Auch, wenn es einen manchmal ermüdet. Auch, wenn wir andere auf unserem Weg verlieren. Auch, wenn es manchmal aussieht, als gäbe es kein Ziel, als sei alles sinnlos. Auch wenn es schmerzt und man sich verbrennt. Wir machen weiter. „Ja, wie du und ich“, wiederholt er, diesmal laut. „Aber irgendwann werden die Straßenlaternen nicht mehr leuchten und die Motten werden wieder frei sein. Dann werden sie den Mond finden und ihre Sehnsucht wird sich erfüllen. Viel Glück ihr Kleinen, Ich hoffe, ihr schafft es.“ Dann geht er zurück ins Warme, wählt ihre Nummer und ist erleichtert, als sie abhebt. Die Lichter im Inneren des Gebäudes aber bleiben dunkel.

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