Die andere Seite (2025) - flight to safety 1965

Die Strömung riss an ihren Füßen, als würde sie es darauf anlegen, dass die Frau ihre Standfestigkeit verlor. Ihr reichte das Wasser bis zur Brust, sie hatte keine Kraft in den Knochen und im Kopf nur wirre Gedanken. Neben ihr tasteten sich ihre Kinder mit nackten Füßen durch das kalte Flusswasser. Kleine Schritte, vorsichtige Schritte, immer der anderen Seite entgegen. 

Nur ihr Jüngster, der konnte noch nicht stehen, der wäre weggesoffen, hätte sie ihn nicht auf ihrem Arm getragen. Sie hatte keine Kraft mehr. Und trotzdem hielt sie ihr Kind über Wasser. Sie musste ihn festhalten, auch wenn sie nicht mehr konnte, musste ihre Familie sicher von diesem Ort wegbringen. Diesem Ort, der einmal ihr Zuhause gewesen war. Sie musste auf die andere Seite. Musste durch das Wasser, ihre Kinder wegbringen von dem Lärm und den toten Soldaten, weg von den fremden Flugzeugen und ihrem tödlichen Auswurf. Und weg von dem Rauch, der in ihrer Lunge nistete wie die Sporen eines giftigen Pilzes. Aber wohin gehen, wenn sie hier herauskamen? Wo leben, wenn das Flusswasser an ihren Knöcheln längst getrocknet war? Die Steine im Flussbett rissen ihre Fußsohlen auf, sie merkte es kaum, so kalt war das Wasser und so zerrissen waren sie durch den Lärm auf ihren Straßen.

Vielleicht würden ihre Kinder irgendwann von diesem Tag erzählen. Sie würden erzählen von ihren Eltern, ihrer Kindheit und dem Lärm. Dass sie den Klang ihrer Stimme noch hören könnte, wenn sie von früher erzählten, gab ihr neuen Mut. Sie stellte sich vor, wie ihre Kinder die Augen verdrehten, wenn sie beim Abendessen wieder einmal fragten, wo sie sich den ganzen Tag so herumgetrieben hätten. Sie fänden immer neue Wörter und Ausdrucksweisen, um dieser Frage zu entgehen. Würde sie ihren Kindern solch einen Alltag bieten können, dann hätte sie es geschafft, dann wäre alles gut gegangen. Niemand wäre ersoffen oder erschossen worden und die Kraft in ihren Körpern hätte sie nicht verlassen und gegen die großen Steine gespült, die aus dem Flusswasser herausragten wie tödliche Nägel. 

Doch dann rutschte einer der Jungen auf den algenbesetzten Steinen aus und verlor den Halt. Sein Schrei gellte hell, übertönte den Lärm, dass es nichts mehr gab außer der Angst in seiner Stimme und die Sorge einer Mutter um ihr Kind. Wasser schlug dem haltlosen Jungen ins Gesicht, dass er sich am Tosendem Nass verschluckte und das Wasser seine Schreie erstickte. Sie wollte ihn greifen, doch dann hätte sie ihren Jüngsten loslassen und den Fluten übergeben müssen. Er trieb ab, er würde an den Steinen zerschellen. Doch ehe sich die Verzweiflung in ihrem Inneren breitmachen konnte, hatte der Älteste schon nach seinem Bruder gegriffen, ihn am Handgelenk festgehalten und zu der Familie zurückgezogen. 

Sie hatten keine Wahl, sie mussten weiter, immer weiter. Auf die andere Seite, auch ohne Kraft, auch ohne Halt. Sie mussten weiter, mussten nur ankommen, hatten es schon fast geschafft. Keiner von ihnen konnte schwimmen. 

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